Alles, alles Liebe: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 20. März 2017, 21:34 Uhr

Der autobiografische Briefroman „Alles, alles Liebe!“, verfasst von Barbara Honigmann, erschien im Jahr 2000. Der Roman schildert die Geschichte mehrerer Wochen – von November 1975 bis Januar 1976 – der jungen Protagonistin Anna Herzfeld und ihren Freunden. Barbara Honigmann knüpft in ihrem Roman an das Genre Briefroman ihres Debüts Roman von einem Kinde (1986) an. „Honigmann vermittelt >Jüdisches Wissen<, das in der Kindheit als Leerstelle fungierte. Erinnerte Kindheit und verzeichnete Landschaften. Glückliche Kindheit im SED-Staat funktioniert weder als vermeintliche Idylle und verzeichnete Landschaften noch als Identifikationsmuster für die junge Frau Anna.“(1)

Inhalt und Figurenkonstellation:[Bearbeiten]

Allgemein:[Bearbeiten]

Anna sendet den ersten Brief an ihre Freundin Eva am 01. November 1975. Im weiteren Verlauf verfolgen die Leser Briefwechsel mit der Mutter, Freunden und Annas zunächst Geliebtem Leon. Der Roman wirft einen Blick zurück auf die Mitte der 70er Jahre in der DDR. Die Zeit war von einer gespannten politischen Lage geprägt: „November 1975 ist auch das Datum, an dem die ostdeutsche Regierung unter Honecker eine antiisraelische UNO-Resolution ratifizierte und den Zionismus als eine Form des Rassismus und der rassistischen Diskriminierung definierte. Marginalisierung und Ausgrenzung der jüdischen Minderheit waren die Folgen.“(2)

Inhalt:[Bearbeiten]

Anna Herzfeld, eine junge jüdische Frau, zieht von Berlin nach Prenzlau, um dort in ihr Berufsleben als Regisseurin einzusteigen. Diese Distanz ist der Anlass für den Briefwechsel, da Anna zum ersten Mal die Stadt ihrer Kindheit verlässt. Sie lässt ihre Familie und Freunde in der Hauptstadt zurück und hält durch die Briefe sowie durch regelmäßige Wochenendbesuche den Kontakt aufrecht. „Das Festhalten an diesem Medium „Brief“ verläuft diametral zum Verlust der Liebe zu ihrem Geliebten Leon. Denn Briefe, die im Zeitmoment des „Heute“ geschrieben werden, kommen niemals im „Heute“ an.(3) Zentrale Themen des Romans sind Liebe, Freundschaft, Politik, Schwierigkeiten und Frustrationen des Alltags in der DDR, die Rebellion der Freunde gegen das Regime, Identitätssuche sowie Gefühle der Unzugehörigkeit. Anna und ihre Schwester Eva arbeiten beide in verschiedenen Theatern und erfahren beide aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln keine Zugehörigkeit. „Einer der Höhepunkte der Beschreibung der politischen DDR-Realität der 70er Jahre wird von der permanenten Annäherung einer Frau inmitten dieser Ortslosigkeit bereits in Roman von einem Kinde erzählt, die auf der Suche nach ihrem Platz im Leben ist. Diese Annäherung und Toposforschung wird in diesem Roman fortgesetzt, weil die Freunde Eva und Alex begriffen haben, dass sie nicht ihr ganzes Leben wie beim Kindergeburtstag sitzen könnten, so schrecklich aufgeregt und gleichzeitig gelangweilt“.(4)

Figuren:[Bearbeiten]

- Anna: Sie befindet sich in einer Außenseiterrolle als Jüdin sowie Regisseurin und sucht ihre Rolle im Leben. Ihr Leben ist teils von Rebellion gegen Familie und Gesellschaft geprägt. Sie hat viele Freunde, mit denen sie beispielsweise versucht ein Theaterprojekt namens „Bernarda“ auf die Beine zu stellen. - Annas Mutter, wohnhaft in Berlin - Walter: Bekannter von Annas Mutter - Eva und Maria: sind Geschwister von Anna - Leon: Er ist der Geliebte von Anna. Allerdings hat Leon noch weitere Liebschaften – zum Beispiel mit Tini und Tinis Mutter. Außerdem ist er verheiratet – lebt allerdings nicht mehr mit seiner Ehefrau Renate zusammen. Leons Mutter und Bruder werden ebenfalls häufiger erwähnt. - Alex: ist ein guter Freund und teilt Anna immer mit, dass er Leon nicht besonders mag - Ilana, Stefan, Klaus, Thomas, Sanda, Mischka: Freunde von Anna in Russland/Israel - Alan, Crille: Freunde von Anna, werden immer zusammen genannt - Matti: Ex-Freund von Eva - Jörg, Anna, Michi: Annas Arbeitskollegen - Katja: Annas Nachbarin

Form des Romans:[Bearbeiten]

Der Roman besteht aus 62 Briefen. Es ist ein autobiografischer Briefroman mit einer multiperspektivischen Struktur, da der Briefwechsel mit vielen Freunden, Bekannten und der Familie stattfindet. Die Autorin ist selbst jüdischer Herkunft und ihre Eltern sind ins Exil gegangen – ihre Erfahrungen werden in diesem Briefroman verschriftlicht. Einige Briefe werden nicht beantwortet und es wird auch nicht immer direkt auf den vorherigen Brief geantwortet. Die Briefe sind unterschiedlich lang – teils auch nur ein bis zwei Sätze oder über mehrere Seiten. Sie sind häufig wie Tagebucheinträge, die an Freunde verschickt werden, da überwiegend das Erlebte und die Gedanken beschrieben werden.

Interpretationsaspekte:[Bearbeiten]

Da der Roman zur Zeit der Teilung Deutschlands in Ost und West spielt, können die politischen Hintergründe anhand des Romans untersucht werden – zum Beispiel: DDR, Einreiseschwierigkeiten, Besuche in anderen Ländern. An die Politik ist auch die Geschichte eng verknüpft, sodass ergänzend das Judentum analysiert werden kann. Dieses Hintergrundwissen erleichtert den Schülerinnen und Schülern das Verständnis des Romans. Ein weiterer Aspekt ist die Adoleszenz bzw. die Identität. Anna und ihre Freunde rebellieren teils gegen Familie und Gesellschaft. Sie fühlen sich aufgrund der jüdischen Minderheit in Deutschland unzugehörig und äußern auch gegenüber den Eltern bzw. Erwachsenen Verständnislosigkeit. Durch die Unzugehörigkeit fühlen sie sich missverstanden, sodass Mobbing (Anna und Eva auf der Arbeit) ein weiteres Thema sein könnte.

Didaktische Aspekte und Schwerpunkte:[Bearbeiten]

Honigmanns Roman sollte aufgrund der Themen erst zum Ende der Sekundarstufe 1 oder ab der Oberstufe gelesen werden. Die Themen erfordern viel Hintergrundwissen durch die oben genannten Interpretationsaspekte. Weitere Herausforderungen sind die nahezu unzähligen Korrespondenten, unschlüssige und verschachtelte Sätze und die teils nicht zusammenhängenden Briefe.

Welche Kompetenzen werden gefördert? - Strategien zum Leseverstehen kennen und anwenden - Einen Schreibprozess eigenverantwortlich gestalten, Texte planen, Texte schreiben, Ergebnisse einer Textuntersuchung darstellen, Texte überarbeiten - über Schreibfertigkeiten verfügen - literarische Texte verstehen und nutzen - Sach- und Gebrauchstexte verstehen und nutzen: Informationen zielgerichtet entnehmen, ordnen, vergleichen, prüfen und ergänzen; Intentionen eines Textes erkennen, insbesondere Zusammenhang zwischen Autorintentionen, Textmerkmale, Leseerwartungen und Wirkungen - Fächerübergreifender Unterricht: o Politik – historischer Aspekt: Ost-/Westgrenze der DDR behandeln, mit politischen Aspekten (u.a. Einreiseschwierigkeiten) o Politik/ Religion: Judentum, DDR - Im Deutschunterricht: o Merkmale eines Briefromans o Mobbing (Anna und Eva)

Literatur:[Bearbeiten]

Gilman, Sander L.: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Sloah. In: Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. Bd. 11. Hg. v. Werner Besch. Berlin: Erisch Schmidt 2002.

Honigmann, Barbara: Alles, alles Liebe! München: Carl Hanser Verlag 2015.

Fiero, Petra S.: Zwischen Enthüllen und Verstecken. Eine Analyse von Barbara Honigmanns Prosawerk. In: Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte. Hg. v. Hans Otto Horch. Tübingen: Max Niemeyer 2008.

Renneke, Petra: Im Schatten des Verstehens. Denken und Nicht-Wissen. Die Prosa Barbara Honigmanns. Würzburg: Königshausen & Neumann GmbH 2012.

Forschungsliteratur:[Bearbeiten]

- Eckart, Gabriele (1954): Barbara Honigmanns Briefroman „Alles, alles Liebe“: ein Beitrag zur García Lorca-Rezeption in der DDR. In: Glossen 2001. S. 14. - Fiero, Petra S. (2003): Life at the margins of East German society. Barbara Honigmann’s epistolary nouvel „Alles, alles Liebe!“. S. 81-102. - McGlothlin, Erin Heather (2011): The ethics of epistolarity. Barbara Honigmanns „Alles, alles Liebe!“, In: Die Ethik der Literatur. S. 243-257. - Köhnen, Ralph (2001): Liebe in zwei Jahrhunderten. Briefromane bei Goethe und Barbara Honigmann. Heft 4. S. 11-15. - Kuhn, Anna K. (2002): Honigmann, Barbara: Alles, alles Liebe! In: World literature today. Heft 2. S. 190. - Renneke, Petra (2004): Erinnerte Kindheit im Labyrinth der Sprache. Barbara Honigmanns Roman „Alles, alles Liebe!“ Heft 2. S. 242-265. - Schallié, Charlotte (2001): Honigmann, Barbara: Alles, alles Liebe! In: Focus on German studies. S. 167-170.

Weblinks:[Bearbeiten]

Hage, Volker: Deutsche Literatur: Liebe im Gästehaus der DDR. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-17596434.html Ottenbreit, Melanie: Vergangenheitsmusik. Barbara Honigmanns Briefroman „Alles, alles Liebe!“. http://literaturkritik.de/id/3180 Steinert, Hajo: Wenn du lügst, dann lüge so nah wie möglich an der Wahrheit. Die jüdische Schriftstellerin Barbara Honigmann. http://www.deutschlandfunk.de/wenn-du-luegst-dann-luege-so-nah-wie-moeglich-an-der.700.de.html?dram:article_id=84507

Einzelnachweise:[Bearbeiten]

(1)Renneke, Petra. Im Schatten des Verstehens. Denken und Nicht-Wissen. Die Prosa Barbara Honigmanns. Würzburg: Königshausen & Neumann GmbH 2012. S. 79. (2)s.o. S.81. (3)s.o. S.80. (4)s.o. S.83.

Rezeptionen:[Bearbeiten]

Jürgen Verdofysky, Literaturen „Ein Sittenbild über das DDR-Theater… und vor allem eine spannende Geschichte von Liebe und Liebesverrat und den Versuchen, die >Würde des Provisoriums< deutsch-jüdischen Lebens zu retten.“

Paul Michael Lützeler, Die Zeit „Das Stickige, die Ängstlichkeit, den Kleinmut der verspießerten offiziellen DDR-Kulturszene und die verhalten-unsichere Rebellion dagegen in den Monaten vor dem Biermann-Skandal - kein anderes Buch hat das atmosphärisch so bedrängend vergegenwärtigt wie Honigmanns 'Alles, alles Liebe!'.“

Walter Hinck, Frankfurter Allgemeine Zeitung „An Romanen zur Wirklichkeit der DDR, geschrieben nach ihrem Verschwinden, besteht kein Mangel mehr. Aber die Kulturpolitik des SED-Regimes mit dem subversiven Blick der geistigen jüdischen Opposition von damals zu enttarnen, blieb diesem Roman vorbehalten.“

Inge Zenker-Baltes, Der Tagesspiegel „Der intime, meist süffig geschriebene Briefwechsel besticht durch die Schlichtheit, mit der eine Vision vom ganz großen aufregenden Leben skizziert wird."

Claus-Ulrich Bielefeld, Süddeutsche Zeitung „Die Form des Briefromans ermöglicht es der Autorin, schnell die Perspektiven zu wechseln und in knapper und subjektiver Form zu erzählen. Nichts wird ausgewalzt, vieles nur angedeutet, zugespitzt und pointiert. Es entsteht so bei aller Schwere der Thematik ein Gestus des Erzählens, der erstaunlich leicht wirkt und zugleich eine große Dichte der Darstellung erreicht: Eine raffinierte Sprach- und Erzählkomposition, die viele Töne anschlägt und lange klingen läßt. (...) Das Buch strahlt eine unsentimentale Lust am Leben aus, ein trotziges Beharren auf dem Glücksverlangen des Einzelnen. (...) ein kleines, lebenskluges Kompendium, das davon erzählt, wie man Widersprüche aushält und seinen Widerspruchsgeist nicht verliert, wie man sich wehrt gegen die Zumutungen der Wirklichkeit."

Yaak Karsunke, Frankfurter Rundschau „Aus Selbstdarstellungen und Berichten anderer entstehen Bilder, deren Unschärfe nicht einem nostalgischen Weichzeichner, sondern der Vieldeutigkeit von Menschen und ihren Entwicklungen geschuldet ist - was den Leser zu eigenen Parteinahmen und Mutmaßungen anregt. (...) Von der Zukunft wissen Barbara Honigmanns Romanfiguren nichts. Ihre Autorin hält sie und sich mit beharrlicher Genauigkeit in zwei ebenso durchschnittlichen wie repräsentativen Monaten in einem Land fest, das seine Bewohner einsperrt, um sie besser gängeln zu können. 'Alles, alles Liebe!' ist eine unpolemische, aber auch unerbittliche Poträtstudie, dieses untergegangenen Gemeinwesens."

Hans-Rainer John, Berliner LeseZeichen „Sie haben sich in Berlin zur „Turnschuhbande“ zusammengefunden - die herangewachsenen Kinder prominenter Intellektueller und von jüdischen Emigranten, die in die DDR zurückgekehrt sind, um hier wichtige Positionen einzunehmen („Bonzen und Funktionäre“). Die Kinder freilich stehen in mißvergnügter Opposition zu ihren Eltern und ihrem Staat (man schreibt das Jahr 1975), wollen sich nicht anpassen, wollen sich dem organisierten Leben entziehen, einfach nur miteinander sitzen, trinken, reden, schlafen, sich dem ewigen Verwirrspiel der Liebe hingeben. Man betrauert die eigene Lahmheit und Faulheit und die ewigen Klagen darüber, hängt in Theaterkantinen und im „Espresso“ an der Kreuzung Friedrichstraße/Unter den Linden herum mit seinen Fragen, den Zweifeln, dem Frust, den verrückten Herzensverhältnissen. Man malt, man dichtet ein bißchen, man philosophiert, Theaterarbeit ist natürlich en vogue (aber in Berlin für Anfänger nicht praktizierbar), Leon stöbert nach Antiquitäten und reißt damit Geldquellen auf, Alex schiebt Kulissen, aber ein normales Berufsleben ist das nicht. „In manchen Zeiten ist es am besten, nichts zu tun und nichts zu haben.“ Ein Balanceakt am Rande des offiziellen Lebens im real existierenden Sozialismus. Da versuchen es eines Tages ein paar aus der Clique in der Provinz. Matti jobbt als Chemiker in Jena, Eva geht als Schauspielerin nach Meiningen, und Anna übernimmt die Inszenierung eines Weihnachtsmärchens in Prenzlau. Das ist Anlaß für einen Briefwechsel untereinander, und mit den in Berlin zurückgebliebenen Freunden und Verwandten, auch gute Bekannte aus Moskau, Wien und Jerusalem takten sich ein. Durch geschickte Abfolge der Briefe ergibt sich ein stimmiges Bild einer Zeit, die bis heute prägend geworden ist, mit einer Reihe bewegender Porträts junger Menschen, die von den Ereignissen durchgerüttelt werden und die den einen Tag - durch Liebe trunken - himmelhoch jauchzen und am anderen Tag - vom eigenen Unwert überzeugt - zu Tode betrübt sich selbst das Leben zu nehmen trachten. Am Ende sind es rund 60 Briefe, die zwischen 1. 11. 1975 und 3. 1. 1976 gewechselt werden. Wieder einmal hat die Autorin rückhaltlos ihre eigene Biographie geplündert, und entstanden ist ein subtiler, menschlich berührender Briefroman voller Atmosphäre und Authentizität, einfach und unverschnörkelt geschrieben in der schönen, unverwechselbaren Sprache der Kleist-Preisträgerin Honigmann (51). Natürlich braucht ein solches Unternehmen ein Zentrum, und als solches ist wohl Anna erkoren. Das Buch beginnt, indem sich diese Frau zu ihrem Regiedebüt nach Prenzlau begibt und sich bis zur Selbstverleugnung ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Leon hingibt, und es endet, als sie mit ihrer Inszenierung scheitert und gekündigt wird und sich zugleich Leon als ein Partner erweist, der sie verrät und enttäuscht. Ihr Resümee lautet so: „Im Sommer war ich verliebt und wollte mich als Regisseurin in der Provinz behaupten. Im Herbst sind meine Inszenierung und meine Liebe verfallen. Und nun ist es Winter - Theater und Liebe kaputt!“ Um dieses Zentrum sind alle anderen Briefpartner und deren Probleme gruppiert, dadurch ist Anfang und Ende bestimmt, das ist sehr geschickt arrangiert. Einwände? Es ist offen gesagt ein wenig kompliziert, die Haltung der jungen Menschen zu bewerten, weil kaum Maßstäbe vorgegeben sind. Sie nörgeln ewig herum, haben aber kein widerständlerisches Programm. „Mein Leben ist ungeordnet und unordentlich“, klagt der eine, und die andere bekennt: „Manchmal tue ich was und meistens nix. Ich sage mir, wenn man zehn Jahre irgendwo arbeitet, dann ist man schon halb tot.“ Und eine dritte bekundet: „Wir hängen in dieser deutschen Provinz herum, Männer und Frauen haben wir nicht, immer nur Zweifel und Fragen.“ Die oppositionelle Auflehnung ist allgemein, aber sie ist kraft- und ziellos, resignativ. Aus eigener Initiative wird nur wenig in Gang gesetzt: eine Zimmertheater-Aufführung, die tatsächlich einmal zustande kommt, und eine Anthologie mit Gedichten und Prosa, Grafik und Malerei, deren Realisierung ungewiß bleibt. Dann ist da noch der Traum, sich als Gruppe an einem Theater zu konzentrieren und einander zu stützen, und allgegenwärtig ist vor allem die Sehnsucht nach Berührung und Tröstung. Das Bild, das die Autorin entwirft, ist sicher historisch stimmig, aber ästhetisch befriedigend ist es auf Dauer nicht. Da ist eine tatkräftige und entschlossene Figur wie Ilana aus Riga, die weiß, was sie will - nämlich einen Mann ehelichen, Kinder in die Welt setzen und nach Israel auswandern -, geradezu erfrischend. Und manchmal muß einfach zuviel entschlüsselt werden. Das ist etwas mühsam, wenn man kein Insider ist. Wer weiß schon auf Anhieb, wer hinter Heiner, Fritz und Thomas steckt (Müller, Marquardt, Brasch offenbar), und mit Strehler, Ljubimow und Taganka sind heute auch kaum noch gängige Vorstellungen verbunden. Meistens beherrscht die Autorin die Kunst, in einem kurzen Brief ein ganzes Schicksal aufzureißen (Peter, Maria, Mischka zum Beispiel), aber manchmal werden auch nur Namen genannt wie Alan oder Crille, ohne daß die Menschen Leben erhalten und für uns plastisch werden.“


Carmen Fuchs, Universität Paderborn