Der Waldbruder: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 22. Februar 2017, 10:49 Uhr

Der Briefroman „Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden“ ist eine Erzählung, die als unmittelbare Reaktion auf die Veröffentlichung Johann Wolfgang Goethes, „Die Leiden des jungen Werther“, entstand. Jakob Michael Reinhold Lenz verfasste sie 1776, während Goethe das Fragment 1797 veröffentlichte.

Der sogenannte Waldbruder, Herz, verkörpert einen Gefühlsmenschen, der durch die Intrigen seiner Mitmenschen in unglückliche Verwicklungen gerät.

Inhalt und Figurenkonstellation[Bearbeiten]

Die im Titel erwähnte Hauptperson „Der Waldbruder“ wird im Roman „Herz“ genannt. Seit seinem zwölften Lebensjahr bewegt ihn eine aufregende Lebensgeschichte. Von einem französischen Bankier gefördert, nimmt er in Frankreich den Namen Herz an und beginnt anschließend ein Studium in Leipzig, wo er den Kommilitonen Plettenberg kennenlernt, der im Roman eine weitere bedeutende Rolle darstellt.

Im Hinblick auf sein Liebesleben ist Herz vielen Enttäuschungen ausgesetzt. Immer wieder verliebt er sich in seiner Kinder- und Jugendzeit in seltsame Frauentypen, die anschließend jedoch immer schon vergeben sind.

Im Erzählkontext des Romans erfährt der Leser davon, dass Herz – durch sein Interesse angeregt – rege Besuche bei einer Witwe Hohl macht, die sehr bedeutende Briefkorrespondenzen mit Adligen und Wissenschaftlern unterhält. Die geschickte Witwe fädelt es so ein, dass Herz die Briefe der schönen Gräfin Stella in die Hand bekommt. Herz entwickelt durch die Lektüre der Briefe eine tiefe Liebe zur Gräfin, obwohl er die Gräfin in seinem Leben noch nie zu Gesicht bekommen hat. Herz jedoch ist derart fasziniert vom feinen Charakter und der Gutmütigkeit der Gräfinnenbriefe, dass er sich vollkommen in die Liebe zur Gräfin vertieft.

Doch die Gräfin selbst ist verlobt, nämlich ausgerechnet mit dem ehemaligen Kommilitonen Plettenberg, den Herz in Leipzig kennenlernte. Plettenberg strebt mittlerweile eine große militärische Karriere an, um die Gräfin standesgemäß heiraten zu können. Mit der Lektüre der Briefe der Gräfin hatte die Witwe Hohl jedoch eigentlich beabsichtigt, dass Herz eine Liebe zu ihr selbst entwickeln würde, wenn er erkennt, dass die Gräfin für ihn unerreichbar sei.

Als Herz die Miete bei der Witwe nicht mehr bezahlen kann, hofft sie, Herz in finanzielle Abhängigkeit zu zwingen. Doch Herz flüchtet in eine Waldklause und wird zum Waldbruder.

An dieser Stelle tritt ein weiterer Freund von Herz ins Zentrum des Geschehens. „Rothe“ möchte Herz mit der Hilfe der Gräfin wieder zurück in die Stadt und in die Gesellschaft holen. Der Plan soll sein, Herz als Adjutant von Plettenberg in militärische Dienste nach Amerika gehen zu lassen, damit Plettenberg zu passender Gelegenheit zurückkehren kann, um die Gräfin zu heiraten, sodass Herz davon nichts mitbekommt. Zudem verspricht die Gräfin Herz ein Portrait von ihr. Dieses Portrait wird jedoch im Auftrag der Witwe Hohl gestohlen und Rothe ausgehändigt, der inzwischen mit Plettenberg Kontakt aufgenommen hat und ihn hinterrücks über alles unterrichtet hat.

Im letzten Brief des Romanfragments schildert schließlich der, zum Zeitpunkt des Geschehens schon betagte, Plettenberg, dass er sich Rothe als „Nachfolger“ an der Seite der Gräfin wünscht.

Form des Romans[Bearbeiten]

Der Briefroman besteht insgesamt aus einunddreißig Briefen, die nicht datiert sind und auf drei Teile aufgeteilt sind. Die Briefe sind vom Umfang her recht kurz gehalten, sodass sich das Romanfragment insgesamt nur auf einen Seitenumfang von etwa vierzig Seiten erstreckt. Teils schreiben die in der Erzählung handelnden Personen untereinander und antworten auf ihre Briefe, teils sind jedoch auch Briefe von Personen enthalten, die nicht konkret an der Erzählhandlung des Romans teilnehmen, aber einen Überblick über die Gesamtsituation geben. So kommen als briefschreibende und briefempfangende Personen neben Herz, Rothe, der Gräfin, der Witwe Hohl und Plettenberg noch das Fräulein Schatouilleuse, eine gewisse Honesta, der Pfarrer Claudius und ein Bekannter Herz‘ – Fernand – hinzu.

Interpretationsansätze[Bearbeiten]

Robert Stockhammer hält fest, dass, wenn der Waldbruder, den Namen Herz angenommen habe, so freilich auch deshalb, weil der Name des Dichters, der diesen Roman verfasst hat, mit dem Protagonisten den tragenden Vokal und den auslautenden Konsonanten gemein hat. Sein Gegenspieler heiße allzu leicht entzifferbar Rothe ‒ Goethe. Dass der Briefroman als Portrait des angehenden Weimarer Hofdichters für diesen nicht eben günstig ausfalle, habe zu manchen Spekulationen geführt. Gewiss lasse sich etwa der Kampf zwischen Rothe und Herz um das Bild von Stella auch als Kampf zwischen dem Dichter von Stella und Lenz um das Zeugnis künstlerischer Meisterschaft deuten. Die entscheidenden poetischen Verfahren in dieser Auseinandersetzung seien aber subtilere. Denn vor allem sei der Protagonist des Pendant zu Werthers Leiden eine Prosopopöie des systematischen Orts von Werthers „Herz“. (1)

Zudem irritiere der Waldbruder eine Alternative zwischen einem aufrichtig liebenden Herz und einem politisch taktierendem Verstand, wie Robert Stockhammer ebenfalls äußert, indem für das Verhalten von Herz zwei sehr gegensätzliche Interpretationen angeboten würden: Er selbst zwar behauptet von sich, die Liebkosungen an die Witwe Hohl nicht aus Politik, sondern aus wahrer herzlicher Ergebenheit zu verschwenden, Honesta jedoch berichtet, er lasse das Feuer, das die Witwe Hohl einmal in seinem Herzen angeblasen aus Politik auf seinem Gesicht oft sehr trüb und dunkel brennen. (2)

In keinem anderen Werk der Weimarer Zeit kulminierten die psychischen und sozialen Probleme Lenz‘ so deutlich, wie im Waldbruder. In diesem Prosatext werde der biographische Aspekt des Konfliktes mit Goethe in den zwei unterschiedlichen Lebenskonzeptionen der Figuren „Herz“ und „Rothe“ reflektiert. Auch das Motiv des Einsiedlers im Wald und die Versessenheit auf ein Portrait hätten hier biographische Wurzeln. Zudem könne man jedoch bei Lenz von einer Schwierigkeit sprechen, unterschiedliche Impulse zu integrieren. Sein „Ich“ scheine zumindest für einen gewissen Zeitraum diese Funktion eingebüßt zu haben, denn weiterhin liefere er seine Texte, von denen er eigentlich annehmen müsste, dass sie Goethe beleidigten, diesem treuherzig ab, hält Elke Meinzer im Hinblick auf das psychoanalytische Potential des Briefromans fest. (3)

Auch Freundschaft und Liebe werden als Kernproblematiken des Werks genannt, wenn man die Figur des Rothe näher betrachtet und sich frage, in welchem Verhältnis er zu Herz stehe und ob er nun Freund oder Feind sei. Der Text gebe keine deutliche Antwort, sondern produziere Unklarheiten. Damit gerate aber auch die Freundschaft zwischen Herz und Rothe ins Zwielicht. (4) Inge Stephan stellt hier als eine Arbeitshypothese heraus: „Wie aber ist Freundschaft und Liebe möglich, wenn die Identität der Beteiligten so unklar ist, bzw. vom Autor so verwirrt wird, daß davon alle Personen mehr oder minder stark betroffen sind?“(5)

Didaktische Aspekte[Bearbeiten]

J. M. R. Lenz‘ Fragment eines Briefromans fällt unter die typischen „Wertheriaden“ und zeigt zu viel Abhängigkeit und einfältige Ähnlichkeit zu Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, als dass er als Lektüre im Deutschunterricht alleine stehen könnte. Qualitativ erreicht er das Niveau der Vorlage nicht. Durch seinen kompakten Umfang und seine unzähligen Anknüpfungspunkte jedoch an Goethes berühmtes Werk kann der Roman eine Schlüsselrolle im Deutschunterricht einnehmen, wenn es inhaltlich um die historische Rezeption des Wertherromans geht. Nicht zuletzt die Interpretationsansätze, die im Waldbruder autobiographische Anknüpfungspunkte zur Freundschaft zwischen Goethe und Lenz sehen, machen den Roman zu einer kurzen, prägnanten und herausragenden Begleitlektüre zu „Die Leiden des jungen Werther“ am Beginn der Oberstufe. Auch als Thema für weiterführende Referate oder eine Facharbeit zeigt Lenz‘ Fragment Eignungspotential.

Ausgabe[Bearbeiten]

Lenz, Jakob Michael Reinhold; Lewy, Ernst [Hrsg.]: Gesammelte Schriften; Bd. 4 : Prosa. Berlin, 1909.

Forschungsliteratur[Bearbeiten]

Hill, David [Hrsg.]: Jakob Michael Reinhold Lenz – Studien zum Gesamtwerk, Opladen 1994.

Kaiser, Ilse: Die Freunde machen den Philosophen, Der Engländer, Der Waldbruder von Jakob Michael Reinhold Lenz, Erlangen 1917.

Meinzer, Elke: Die Irrgärten des J. M. R. Lenz: zur psychoanalytischen Interpretation der Werke ‚Tantalus‘, ‚Der Waldbruder‘ und ‚Myrsa Polagi‘ In: Jakob Michael Reinhold Lenz, 1994.

Stephan, Inge: Das Scheitern einer heroischen Konzeption: der Freundschafts- und Liebesdiskurs im ‚Waldbruder‘ In: „Unaufhörlich Lenz gelesen …“, Weimar 1994.

Stockhammer, Robert: Zur Politik des Herz(ens): J. M. R. Lenz‘ „misreadings“ von Goethes Werther. In: Hill, David [Hrsg.]: Jakob Michael Reinhold Lenz – Studien zum Gesamtwerk, Opladen 1994.

Weiß, Christoph: ‚Waldbruder‘-Fragmente: über einige bislang ungedruckte Entwürfe zu J. M. R. Lenz‘ Briefroman ‚Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden‘ In: Lenz-Jahrbuch 3, 1993.

Wurst, Karin A.,: Überlegungen zur ästhetischen Struktur von J.M.R. Lenz' 'Der Waldbruder', ein Pendant zu Werthers Leiden In: Neophilologus 74 1990, 70/86.

Wurst, Karin A.: J. M. R. Lenz‘ Poetik der Bedingungsverhältnisse: ‚Werther‘, die „Werther-Briefe“ und ‚Der Waldbruder ein Pendant zu Werthers Leiden‘ In: J. M. R. Lenz als Alternative? 1992.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

(1) Vgl. Stockhammer, Robert: Zur Politik des Herz(ens): J. M. R. Lenz‘ „misreadings“ von Goethes Werther. In: Hill, David [Hrsg.]: Jakob Michael Reinhold Lenz – Studien zum Gesamtwerk, Opladen 1994, 132.

(2) Vgl. Ebd., 137.

(3) Vgl. Meinzer, Elke: Die Irrgärten des J. M. R. Lenz. Zur psychoanalytischen Interpretation der Werke Tantalus, Der Waldbruder und Myrsa Polagi. In: In: Hill, David [Hrsg.]: Jakob Michael Reinhold Lenz – Studien zum Gesamtwerk, Opladen 1994, 173.

(4) Vgl. Stephan, Inge: Das Scheitern einer heroischen Konzeption. Der Freundschafts- und Liebesdiskurs im „Waldbruder“. In: Stephan, Inge; Winter, Hans-Gerd [Hrsgg.]: „Unaufhörlich Lenz gelesen…“ Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz, Weimar 1994, 276.

(5) Ebd., 277.