Das Glück hat mich umarmt. Ein Briefroman

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„Das Glück hat mich umarmt. Eine Geschichte von Briefen“ ist ein Briefroman aus dem Jahr 2008 der 1951-geborenen deutsch-jüdischen Schriftstellerin Nea Weissberg, die als Pseudonym für dieses Werk den Namen Nejusch trägt. Anhand eines Briefwechsels von authentischen Briefen der Autorin mit einem nicht-jüdischen, deutschen Brieffreund, versucht sie die Erlebnisse zu erklären, die ihr Vater 1941 als polnischer Jude in Lemberg beim Pogrom erfahren hat. Sie setzt sich somit mit der Geschichte ihrer Familie im Blick der zweiten Generation auseinander, versucht sich so, mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Antworten auf die Frage zu finden, wie das Schweigen über die traumatischen Erlebnisse gebrochen werden kann.

Hintergrund[Bearbeiten]

Infolge eines deutschen Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 kam es zu mehreren Massenmorden in der bis Kriegsbeginn zu Polen gehörenden, zwischenzeitlich aber von der Sowjetunion okkupierten Stadt Lemberg. Am 30. Juni 1941 wurde die Stadt erneut durch deutsche Truppen eingenommen. Vor der Einnahme wurden fast 4000 politische Gefangene in den Gefängnissen durch den sowjetischen Geheimdienst ermordet. Die deutsche Wehrmacht fotografierte die Leichen, die letztendlich für Propagandazwecke verwendet wurden. Die erstellten Flugblätter und Plakate gaben die Information weiter, dass „jüdische Bolschewiken“ diese Morde verübt haben sollen, durch die ein jüdischer Pogrom initiiert wurde. Innerhalb dieses Pogroms wurden die jüdisch stämmigen Einwohner Lembergs gezwungen, die Leichen zu reinigen und in der Öffentlichkeit auszulegen. Mehr als 100 Juden wurden dabei durch Zivilisten mit Latten, Knüppeln und Fäusten misshandelt und ermordet. Mehr als 3000 Juden fielen einer systematischen Vernichtung am Rande der Stadt Lembergs zum Opfer.

Handlung und Figurenkonstellation[Bearbeiten]

Der Roman beginnt bei den Kindheitsgeschichten und Kindheitserinnerungen Nejuschs, die von der unbeschwerten Kindheit eines kleinen Mädchen berichtet. Über die Vergangenheit der Eltern und vieler jüdischer Verwandte wird am Anfang nur in kurzen Sequenzen berichtet. Nejusch lebt mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrer Zwillingsschwester Lilly in Berlin, nachdem sie, im zweiten Weltkrieg über Südtirol nach Buenos Aires geflüchtet, aus Südamerika nach Deutschland zurückgekehrt sind. Da ihre Mutter als erfolgreiche Geschäftsfrau wenig Zeit für ihre Tochter hat, sehnt Nejusch sich oft nach ihrer Liebe, dem Verständnis und der Ermutigung. Diese erhält sie jedoch nur durch ihre Kinderfrau Heidi, liebevoll Hetti genannt, die als Mutterersatz für die drei Geschwister dient.

Sie besucht zuerst eine französische Schule, im weiterführenden Alter eine deutsche Schule, in der sie ihr Abitur abschließt. Nach der Wiederkehr aus Jerusalem, beginnt sie das Lehramts-Studium und heiratet Anfang der 80er Jahre einen ehemaligen Bekannten, mit dem sie in Israel eine neue Zukunft aufbauen will und als Höhepunkt ihres Glückes eine Tochter bekommt. Doch die Ehe zerbricht und sie kehrt nach einigen Jahren aus Israel nach Deutschland zurück. Ihre Tochter ist ihr Ein und Alles, der sie die Liebe und Zuneigung schenkt, die sie bei ihrer Mutter stets vermisst hat. Sie setzt sich in ihrer freien Zeit gegen den Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit ein, sodass sie erste Schritte findet sich mit der Vergangenheit ihrer Familie auseinanderzusetzen.

Schon im Kindesalter beginnt Nejusch sich immer mehr für die Erlebnisse ihrer Eltern im Zweiten Weltkrieg zu interessieren, doch ihre Eltern schweigen bedächtig über ihre Vergangenheit. Allmählich beginnt sie sich jedoch immer mehr damit auseinanderzusetzen, als sie zum ersten Mal eine blau tätowierte Nummer und einen halben Davidsstern auf dem linken Unterarm eines Bekannten ihrer Eltern erkennt. Doch diese zu befragen, traut sie sich nicht. Nur heimlich hört sie den Berichten der Bekannten und Ausschwitzüberlebenden zu. Immer vorsichtiger beginnt Nejusch, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Sie beginnt Fragen zu stellen, warum ihre Mutter oft so wehmütig ist, warum ihre Stimme zittert, warum ihre Lieder wie ein leises Schluchzen klingen. Aber Fragen sind gefährlich. Trotzdem stellt sie sich diese immer wieder und berichtet ihrem Brieffreund, was sie entdeckt und inwiefern sie mit der Vergangenheit umgehen will. Dieser bleibt diskret im Hintergrund und erhält die Rolle eines schweigenden, aber verständnisvollen Zuhörers. Durch ihn und seine Fragen schafft es Nejusch ihre Sichtweisen zu „entrümpeln“, er hilft ihr, zu verstehen. So entwickelt sich diese Briefbekanntschaft mit einem Fremden fast zu einer Liebe, die so intensiv ist wie die Freundschaft, die durch den Briefwechsel entstanden ist. Er ermuntert sie, weitere Briefe zu schreiben, mehr über ihre Vergangenheit nachzudenken. Doch erneut überkommen Nejusch Zweifel. Wie ihre Eltern früher verschließt sie sich vor vielen Erinnerungen, verweist darauf, ihm diese Erlebnisse später zu berichten. Der geplante Neuanfang wird daraufhin leider durch einen Wendepunkt in ihrem Leben bestimmt, als sie von dem Selbstmord ihres Bruders erfährt. Ihre Eltern, ihre Schwester und sie werden für den Tod verantwortlich gemacht. Sie zweifelt erneut an dem Zusammenhalt ihrer Familie und erkennt, dass sie vor einem Scherbenhaufen stehen. Nejusch erkennt, dass sie sich stets nach einer Familie gesehnt hat, die zusammen ihr Leben bestreitet, eine solche allerdings nie bekommen hat.

Das wichtigste Detail, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, erhält sie, als ihre Freundin Evelyn ihr Fotos aus einem Archiv vorbeibringt. Sie zeigen Erinnerungsfotos aus dem Jahr 1941, in der im Juni ein Pogrom in Lemberg angestiftet worden war, den ihr Vater überleben konnte. Er konnte sich sicher in einem Versteck aufhalten, doch musste eine Woche nach dem Massenmord erkennen, dass seine ganze Familie umgebracht worden war. Doch diese Fotos, so nah an ihrer Familiengeschichte, erschrecken Nejusch. Sie will davon nichts mehr hören, nichts wissen, nichts sehen. Als sie diese Emotionen in einem Brief an ihren Freund schickt, verschließt dieser sich davor und zieht sich für einige Zeit zurück. Nejusch ist tief verletzt und schreibt ihm trotzdem weitere Briefe, durch die sie das Vertrauen und die Zuneigung ihres Brieffreundes erneut erhalten kann.

Sie berichtet von der Geschichte ihres Vaters, der 67 Jahre nach dem Pogrom in Lemberg sein Schweigen bricht. Als eines von acht Kindern versuchte er, seine Geschwister zu retten, nachdem ihre Mutter bei dem Pogrom in Lemberg ermordet worden war. Einer seiner Brüder kam bei der Flucht über Rumänien nach Amerika ums Leben. Am Ende des Krieges lernte er seine Frau kennen, Mascha, die er im November 1945 heiratete und stets als die gute Seele der Familie galt, eine starke, selbstbewusste Frau. Zurück nach Lemberg wollte er nicht und da eine Einreisegenehmigung in Amerika abgelehnt worden war, zogen sie zuerst nach Buenos Aires, um später nach Berlin zu ziehen, wo sie bis zu ihrem Lebensende geblieben sind. Auch ihr Onkel Ben bricht nach 63 Jahren sein Schweigen. Auf diese Weise erfährt Nejusch immer mehr über ihre Familiengeschichte und deren Vergangenheit. Doch ihr Brieffreund hält ihren Emotionen, die sie in den Briefen schildert, den Familiengeschichten, die die Überlebenden der Familie nun preisgeben, nicht mehr stand. Nejusch ist gekränkt von seiner abrupten Ablehnung gegen ihre Gefühle, die sie in den Briefen versucht, darzustellen. Für sie ist es wichtig, ihre Vergangenheiten jemandem preiszugeben und sie versteht nicht, dass ihr Brieffreund, nach so vielen Briefen über ihre Gedankengänge, Emotionen und Erlebnisse, sich vor ihrer und damit auch seiner Vergangenheit verschließt. Sie überlegt die Brieffreundschaft abzubrechen und schreibt ihrem nun fremd gewordenen Freund einen vernichtenden Brief, in dem sie schonungslos mit ihm abrechnet, und damit auch mit allen Deutschen. Sie kann die Geschehnisse, die ihr und ihren Verwandten angetan wurde nicht vergessen. Sie will es auch nicht. Denn „diese Brühe kann nicht einfach so in den Ausguss geschüttet werden.“ (S. 136)

Form des Romans[Bearbeiten]

Bei dem Roman handelt es sich um einen Briefroman, in denen die Protagonistin Briefe an einen erst unbekannten nichtjüdischen, deutschen Brieffreund schickt. In diesen authentisch entstanden Briefen, berichtet Nejusch ihre Erlebnisse mit der Vergangenheit ihrer Eltern vom Kindesalter bis zum Erwachsenenalter. In den Briefen wechseln die Zeiten und werden durch spontane Einschübe/ Gedankengänge unterbrochen. Sprachlich verwendet sie aufgrund der späteren engen Freundschaft zu ihrem Brieffreund die Umgangssprache, die durch parataktische Sätze und viele Adjektiven geprägt ist.

Interpretationsaspekte[Bearbeiten]

1) Im Mittelpunkt des Briefromans steht die Annäherung einer jüdischen Frau an ihre Familie und an ihren nichtjüdischen Brieffreund. Der Roman ist somit ein persönlicher und sensibler Versuch, die Perspektive der Zweiten Generation, der Kinder der Überlebenden des Holocausts darzustellen.

2) Die zunächst offen und zugewandt wirkenden, dann immer mehr ins Zögern geratenden Mitteilungen zeigen, wie die nach dem Ende der Shoah bzw. nach dem Ende des Dritten Reiches in Deutschland Geborenen auf unterschiedliche Weise von der Vergangenheit ihrer Familien geprägt sind – durch Scham, Angstabwehr, Zorn und Widerstand. Während ihr deutscher Brieffreund zum Ende hin die Vergangenheit und die schrecklichen Erlebnisse, die den Juden und damit auch seiner Brieffreundin angetan worden sind, zu vergessen, versucht sich Nejusch immer weiter in die Erlebnisse einzufühlen und damit ihre Familie zu verstehen.

3) Die jüdische Frau ringt um einen offenen Austausch beider Seiten und zugleich um das Durchbrechen des innerfamiliären Schweigens, das im letzten Jahrhundert wohl zum Hauptthema geworden ist. Das Verschweigen der Täter und Täterkinder, das Schweigen der Opfer und deren Kinder hat das Leben des 20. Jahrhunderts geprägt. Die Opfer schweigen noch mehr als die Täter. Sie haben Angst und schämen sich für die Erlebnisse, die ihnen angetan worden sind. Die Kinder sollen nicht belastet werden. Doch wie vielen Angehörigen und Kindern ist es ihnen wichtig, zu verstehen, was den Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln angetan worden ist. Der Roman Nejuschs bietet somit einen wichtigen Beitrag, das Erlebte zu verarbeiten und das Schweigen endgültig zu bezwingen.

4) Nejusch rechnet in diesem Roman mit dem Deutschen ab. Ihr Zorn richtet sich jedoch nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch gegen die Polen, da sie willig mitmachten, ohne sich zu wehren. Sie führt den Deutschen und Polen ihre ehemalige Täter- und Mittäterschaft vor Augen und entlässt sie somit nicht aus ihrer historischen Verantwortung.

Ausgabe[Bearbeiten]

Nejusch (Weissberg, Nea): Das Glück hat mich umarmt. Eine Geschichte in Briefen. Lichtig Verlag 2009.

Weblinks[Bearbeiten]

Slaska, Ewa Maria: Das Glück hat mich umarmt – von Nejusch. In: Zukunft braucht Erinnerung. 5. April 2009. (URL: http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/das-glueck-hat-mich-umarmt-nejusch/)

Gesine Strempel: Nea Weissberg – Das Glück hat mich umarmt. In: Aviva-Berlin.de. Juni 2015. (URL:http://www.aviva-berlin.de/aviva/content_Buecher_Juedisches%20Leben.php?id=1424766)

Lepper, Anne: Das Glück hat mich umarmt. In: Lernen aus der Geschichte. 17. September 2013. (URL: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/11392)

Boeckl-Klamper, Elisabeth: Massenmorde in Lemberg, Juni/Juli 1941. In: doew (http://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/massenmorde-in-lemberg-juni-juli-1941)


Theresa Vorderwülbecke