Herr Meister

Aus briefromane
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der 1963 von Walter Jens veröffentliche Roman Herr Meister, der im Untertitel Dialog über einen Roman heißt, besteht aus einem Briefwechsel zwischen dem Autor A. und dem Literaturkritiker und Literaturprofessor B. Gemäß der Herausgeberfiktion handelt es sich um einen Briefwechsel von A. und B. zwischen September 1961 und April 1962, den Jens 1963 in drei Teilen herausgegeben hat.(1)


Inhalt und Figurenkonstellation[Bearbeiten]

A.s Ausgangsfrage und damit Anlass des Briefwechsels ist, wie seine Grundidee für einen neuen Roman in eine angemessene Form überführt werden kann. Der Roman soll „von jenen Frühlingstagen des Jahres 33“ (229) handeln, wie in das Alltagsgeschehen abrupt ein totalitäres Terrorregime einbricht, in kürzester Zeit sich die Angst ausbreitet und radikale gesellschaftliche und politische Veränderungen eintreten:

Freunde werden über Nacht zu Feinden; die ältesten Gegner geben einander die Hand. Nachbarn weichen sich tagsüber aus, blicken zur Seite, vermeiden den Gruß, um sich dann nachts, als wäre nicht das Geringste geschehen, zu besuchen […]. Das schlechte Gewissen regiert, viele machen Abschiedsbesuche oder gehen, wenn ein Jude vorbeikommt, auf die andere Seite. (230)

Schauplatz der Geschichte soll eine „kleine Universitätsstadt“ (229) sein mit einem Philosophen als Hauptfigur und einem melancholischen Professor namens „Herr Meister“. A. bittet B. um historisches Material, wonach die Geschichte und die Charaktere gebildet werden können.

B. warnt A., dass solch ein historisches Ereignis nicht in einen Roman transformiert werden kann, ohne den historischen Hintergrund mit Fakten zu beschreiben: „Hitler ist Hitler und ein Hakenkreuz ist ein Hakenkreuz. Da bleibt kein Raum für Nebentöne, überraschende Valeurs und geheime Nuancen.“ (233f.) Die einzige Möglichkeit sieht B. darin, die „Historie auf die Gleichnisebene“ (234) zu erheben.

A. geht auf diesen Vorschlag ein und teilt im nächsten Brief die „Hattington“-Parabel mit, die soziale Phänomene der NS-Zeit zu pointieren versucht: Kurz nach Hattingtons Ausbruch aus dem Zuchthaus herrscht Misstrauen in der Stadt: Die Polizei durchsucht alle Winkel der Stadt, Bürger haben entsicherte Revolver neben dem Bett, nach 22 Uhr geht niemand mehr auf die Straße. Dann beginnt die „Hexenjagd“ (240), die Bürger rotten sich zusammen, es kommt zu Tätlichkeiten, im Namen Hattingtons werden alte, längst verjährte Rechnungen beglichen. Dann findet man Hattingtons Leiche nur hundert Meter vom Zuchthaus entfernt. „Weiter war er nicht gekommen, bei seinem Ausbruchsversuch im November.“ (241) Die Lehre der Fabel soll lauten: „Es gibt nicht viele Leute in unserer Stadt, die frei sind von Schuld.“ (241)

B. lobt die Parabel, weil sie etwas schildert, was sich „jederzeit und überall ereignen kann“ (242), während der Roman lediglich enthüllt, was einmal geschehen ist und „sich doch nie zu wiederholen braucht“ (242).

A. überlegt dann, die Pest als „Seelenkatalysator“ (244) einzusetzen. In Wittenberg bricht 1527 die Pest aus, alle fliehen, nur Martin Luther bleibt zurück und versorgt die Pestkranken. Auch Hamlet soll nach Wittenberg kommen, auf Luther, den „Herrn Meister“, treffen, sich an der Pest anstecken und wieder zurück in Dänemark seinen Bericht verfassen.

Kurzzeitig verwirft A. kurz vor Weihnachten 1961 sein Projekt, verdichtet dann aber in einer indirekten Vorgehensweise Hamlet zu Odysseus und einem „homunculus tristis“ (251), der genauso gut „Niemand“ oder „Meister“ heißen könne. (251)

Die Parabel vom Sargverkäufer, die A. im Brief vom 31. Januar 1962 mitteilt, knüpft an das ursprüngliche Thema an: Wie verhalten sich die Menschen in sozialen Extremsituationen. Der Sargverkäufer in einer Kurstadt schadet dem Absatz der anderen Geschäftsinhaber, weil niemand in die Gegend kommt, wo ihnen der Tod begegnet. Wie vor der Pest fliehen die Menschen vor dem Todesboten, dem Sargverkäufer, bis schließlich das Übel selbst vertrieben wird und der Sargverkäufer bald darauf stirbt. Das Übel ist beseitigt, das Verhalten der Menschen ist gleich schlecht geblieben.

B. reagiert auf A.s Ausführungen auf philologisch-poetologischer Ebene, er kommentiert und reflektiert literaturkritisch. Es wird darüber diskutiert, wie erzählt werden soll, mit dem Realismus und der Erzählperspektive des traditionellen Romans oder mittels einer Parabel, aus der Sicht des Einzelnen oder eines Standes, es wird darüber nachgedacht, wie die Personen dargestellt werden, ob als Charaktere oder als Typen und Kunstfiguren, es wird darüber gestritten, wie die historische Wirklichkeit literarisch implementiert werden kann, indem man den „historische Miniaturen zeichnet“ (235) oder die „Historie auf die Gleichnisebene“ (234) hebt.

Die wechselseitige Durchdringung von Poesie und Philologie führt schließlich zum Prozess der Ernüchterung. Es fehlt an einem ästhetischen Konzept, das Thema in einen Roman zu fassen. Nachdem Adorno bereits 1950 konstatiert hatte, dass es nach Auschwitz „barbarisch“ sei, ein Gedicht zu schreiben, (2) müssen auch A. und B. erkennen, dass die Grenzen der konventionellen Mittel, nämlich mimetisch-dokumentarisch zu verfahren, zu überschreiten sind. Das neue Prinzip müsse lauten: „synoptische Vergegenwärtigung, Montage der Zeiten und Räume, heißt: Poesie der Relation“ (274). Schließlich erkennt B., dass hinter all den Figuren A. selbst steckt: „Machen wir doch endlich ernst: Sie heißen Herr Meister; meinen Sie, ich hätte nicht geahnt, daß Hamlet und Luther, Nagel und Jones – immer nur Sie selbst sind?“ (292) Am Ende des Romans in Briefen steht schließlich die lakonische Bemerkung, dass der „Dialog in Briefen“ (296) nun vollendet sei, und wird Marc Aurel zitiert: „Was ein geplantes Werk aufhält, wird selber zum Werk.“ (297) Schreibend also entrinnt A. der „Haltung der Nicht-Repräsentierbarkeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft“. (3)


Form des Romans[Bearbeiten]

Im Brief vom 15.1.62 schlägt B. seinem Briefpartner vor, entweder sich für die Form des Briefromans zu entscheiden oder ganz auf die Ich-Erzählung zu verzichten, wenn es ihm darum geht, die „Antithetik von Gelten und Sein“ (257) der Hauptfigur herauszustellen, also zu zeigen, wie Herr Meister sich selbst sieht und wie er anderen erscheint. Der Antwortbrief A.s ist „leider verlorengegangen“ (258). Doch am Ende des Briefwechsels ist dann genau das entstanden: ein „Dialog in Briefen“ über Herrn Meister, der eigentlich A. selbst ist.


Interpretationsaspekte[Bearbeiten]

1) Der Roman handelt von einer „Inszenierung einer Art Ich-Spaltung des Dichters und Wissenschaftlers Jens, mithin also um die erzählerische Auslotung der Problematik der eigenen Künstler-Existenz“. (4) Ende Oktober 1961 hatte Jens den Ruf der TU Darmstadt auf ein Ordinariat für internationale Literatur abgelehnt, weil die Universität Tübingen für ihn kurzfristig ein „persönliches Extra-Ordinariat“ mit einem Lehrauftrag für „Klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik“ eingerichtet hatte. Es bahnt sich ein Rollentausch an. Im Wechselspiel von Schriftsteller und Wissenschaftler, von A. und B., sind die folgenden Jahre Jens’ geprägt von den Existenzformen des Professors, Kritikers, Redners, Essayisten. Im Brief an Hans Werner Richter kommentiert Jens die Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung seiner Person vom Autor zum Kritiker: „Ich bin jetzt überall der grosse Literatur-Papst mit der raschelnden Tiara, jeder will einen Vortrag, jeder will das Chef-Orakel der deutschen Gegenwarts-Literatur hören … und dabei komme ich zu einem Roman überhaupt nicht mehr.“ (5) „Mit Herr Meister hört Walter Jens auf Romane zu schreiben“ , resümiert Till. (6) „Ein solches Scheitern“, so Till, konnte nur ein „einziges Mal erzählt und nicht wiederholt werden“. (7)

2) Der Briefwechsel ist ein Gespräch über die Möglichkeiten, die Schrecken der NS-Zeit in einen Roman zu transformieren. Indem das Gespräch abbricht und der Roman ungeschrieben bleibt, bezeugt die Form, die Unmöglichkeit, dieses Vorhaben zu realisieren, gerade im Jahr 1963, als der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess begann und den Holocaust und die NS-Vernichtungspolitik in den Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung rückt. Der Roman, der im Entstehungsprozess stecken bleibt, soll zeigen, unter welchen Bedingungen die Menschen gezwungen werden sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Soziale Extremsituationen wie der Februar 1933, der Ausbruch eines Gewalttäters (Hattington-Parabel), die Pest 1527 in Wittenberg offenbaren das menschliche Fehlverhalten, es wird nach Sündenböcken geschaut, Unrecht im Namen eines anderen getan. Damit zeigte der Roman auch, was bestimmte Bedingungen mit den Menschen machen. Die einen werden zu Tätern, die anderen zum „homunculus tristis“. Dass der Roman dann nicht geschrieben wird, ist ein ästhetisches, nicht inhaltliches Problem. Denn das Thema haben in den sechziger Jahren andere in Romanen behandeln können (Koeppen, Der Tod in Rom; Uwe Johnson, Das dritte Buch über Achim; Max Frisch, Stiller).

3) Das Abbrechen des Projekts zeigt aber auch den Mangel an ästhetischen Formen, die sich dafür eignen, ein historisches Ereignis literarisch zu verarbeiten. Das Gespräch zwischen A. und B. dokumentiert so also auch die Notwendigkeit einer neuen literarischen Epoche. Die Sechziger Jahre werden unter dem Begriff „Politisierung der Literatur“ zusammengefasst, in den Siebziger Jahren entwirft Marcel Reich-Ranicki dann den Begriff der „Neuen Subjektivität“ als Gegenbewegung zu der 68er-Literatur, die auf Innerlichkeit und Selbsterfahrung abzielte.

4) Das neue ästhetische Prinzip, worüber A. und B. nachdenken, soll lauten: „synoptische Vergegenwärtigung, Montage der Zeiten und Räume […]: Poesie der Relation“ (274). Die Literatur hat nicht mehr die Aufgabe zu informieren, diese Rolle haben im 20. Jahrhundert die neuen Medien des Fernsehers und Radios übernommen. „Wissenschaft und Kunst sind nicht mehr zu verschmelzen“, bemerkte schon Adorno. (9) Herr Meister ist Jens’ letzter Roman; danach wendet er sich „unter Aspekten der Wirkungsintentionalität“ dem Fernsehen zu und schreibt „Fernsehspiele“. Damit ist das gescheiterte Herr Meister-Projekt auch Bild für das Zusammensinken der Literatur vor dem Medienwandel. Wenn sie über historische Fakten nicht mehr zu berichten braucht und sie auch nicht mehr angemessen ästhetisch literarisch verarbeitet werden kann, dann bleibt nur die Hinwendung zum neuen Medium oder die Kritik am Politischen, Gesellschaftlichen, Sozialen.


Rezeption[Bearbeiten]

In der Zeit wurden lange Rezensionen pro (u. a. Erich Fried) und contra Jens (Walter Widmer) abgedruckt. Manche Kritiker haben Jens’ Spiel und Ironie („Was ein geplantes Werk aufhält, wird selber zum Werk.“) nicht gutgeheißen. Hans Markus Enzensberger meint im Spiegel, dass „Hopfen und Malz verloren“ seien, Jürgen Kolbe (1976, 351) äußerst sich noch Jahre später verärgert: „Den Zweifel am Herstellen von Literatur stilisiert Jens zur Literatur.“


Ausgaben[Bearbeiten]

Jens, Walter: Herr Meister. Dialog über einen Roman. München 1963.

Jens, Walter: Der Mann, der nicht alt werden wollte. Roman / Herr Meister. Dialog über den Roman. München 1987. S. 225‒297.


Literatur[Bearbeiten]

Bähr, Hans Walter: Grenzen des Romans? Zu dem neuen Buch von Walter Jens. In: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur 18 (1963) 1359 -1361.

Berls, Ulrich: Walter Jens als politischer Schriftsteller und Rhetor. Tübingen 1984.

Kolbe, Jürgen: Walter Jens, in: Deutsche Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen, hg. v. Dietrich Weber, Stuttgart 1976, Bd. 1, S. 338‒357.

Kraft, Herbert: Das literarische Werk von Walter Jens. Tübingen 1975.

Kuschel, Karl-Josef: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zürich 1978.

Lauffs, Manfred: Walter Jens. München 1980.

Ostheimer, Michael: Ungebetene Hinterlassenschaften. Zur literarischen Imagination über das familiäre Nachleben des Nationalsozialismus, Göttingen 2013 (darin: S. 127‒131).

Till, Dietmar: Arbeit am Modell. Zu den Romanen von Walter Jens, in: Walter Jens. Redner ‒ Schriftsteller ‒ Übersetzer, hg. v. Joachim Knape u. a., Tübingen 2014, S. 39‒57.


Weblinks[Bearbeiten]

Enzensberger, Hans Markus: Walter Jens Herr Meister. Enzensberger Oktober Lektüre, in: Spiegel, 2.10.1963 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46172154.html)

Widmer, Walter: Der Herr Meister von Walter Jens. Vergebliche Aufzeichnungen, in: Zeit, 22.11.1963 (http://www.zeit.de/1963/47/der-herr-meister-von-walter-jens)



Einzelnachweise[Bearbeiten]

(1) Der Roman wird im fortlaufenden Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert nach: Walter Jens, Der Mann, der nicht alt werden wollte. Roman / Herr Meister. Dialog über den Roman. München 1987. S. 225‒297.

(2) Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, „Prismen. Ohne Leitbild“, Frankfurt am Main 1977,S. 30.

(3) Ostheimer (2013) 130.

(4) Till (2014) 55.

(5) Hans Werner Richter, Briefe, hg. v. Sabina Cofalla, München, Wien 1977, S. 373.

(6) Till (2014) 56.

(7) Till (2014) 57.

(8) Walter Jens, Literatur und Politik ‒ Aspekte deutscher Nachkriegsliteratur, in: Moderna sprak 64 (1970) 371.

(9) Adorno, Theodor W.: Ästetische Theorie. (Gesammelte Schriften, Bd. 7) Frankfurt am Main 1970. S. 344.


                                                                                   Dr. Karina Becker, Universität Paderborn